Viele Reiter kennen diese Situation: das Pferd springt auf dem Abreiteplatz locker, sicher und im guten Rhythmus. Doch im Parcours hält es an, „schaltet sich ab“, verliert den Impuls oder reagiert chaotisch.
Die naheliegende Erklärung lautet: „Er will nicht“, „Er hat Angst“, „Er testet mich“.
Doch moderne Biomechanik und Pferdemedizin zeigen klar:
Wenn ein Pferd nur im Parcours blockiert, schließt das Schmerzen NICHT aus. Im Gegenteil, der Parcours deckt Schmerzen auf, die im Abreiten unsichtbar bleiben.
Dieses Phänomen ist wissenschaftlich dokumentiert und in der Praxis von Tierärzten auf jedem Niveau sichtbar. Warum ist das so?
1. Der Parcours fordert viel mehr Koordination und Belastung als einzelne Sprünge
in Parcours verlangt vom Pferd:
- schnelle Tempowechsel,
- kurze Distanzen,
- Wendungen unter Winkeln,
- Sprünge aus nicht optimalen Punkten,
- Reaktion auf Druck und Spannung des Reiters,
- schnelle Entscheidungen.
Hat das Pferd leichte Schmerzen, die es unter einfachen Bedingungen kompensiert, kann sein Körper im Parcours:
- aus dem Gleichgewicht geraten,
- Schwierigkeiten haben, die Hinterhand zu aktivieren,
- Distanzen schlechter einschätzen,
- den Rücken verspannen,
- in einen Hilfenkonflikt geraten,
- im Anreiten „blockieren“.
Beim Abreiten kann das Pferd Linien und Rhythmus nach Komfort wählen. Im Parcours hat es diese Kontrolle nicht. Kleine Schmerzen bleiben oft im Training unauffällig, werden aber unter Turnierbelastung sichtbar.
2. Sue Dyson-Studien (2012–2021): Viele Pferde zeigen Schmerzen NUR unter Aufgabenlast
Professor Sue Dyson zeigte:
- viele Pferde mit Schmerzen lahmen NICHT,
- wirken normal in einfachen Übungen,
- zeigen jedoch Blockaden, Taktverlust oder Verweigerungen nur in komplexen Bewegungsabläufen, wie im Parcours.
Dieses Phänomen heißt: pain-induced performance deficit (leistungsbedingtes Schmerzdefizit). In der Praxis bedeutet das:
- Pferd springt im Abreiten gut,
- hat aber versteckte Rücken- oder Kreuz-Darmbein-Schmerzen, Muskelverspannungen oder Mikroverletzungen,
- die erst unter Stress und höherer Belastung sichtbar werden.
⚠ 3. Schmerz + Reiterdruck = Bewegungsblockade, Freeze oder scheinbare „Unlust“
Verhalten im Parcours ist mehr als Biomechanik. Es ist eine komplexe Interaktion aus:
- Schmerz,
- Stress,
- Muskelspannung,
- Reiterhilfen,
- sensorischer Überforderung.
Bei Schmerz:
- ermüdet das Pferd schneller,
- toleriert weniger Fehler,
- verarbeitet Hilfen schlechter,
- Spannung im Körper steigt.
Dies äußert sich als:
- Impulsverlust,
- Unwilligkeit,
- Widerstand,
- „Abschalten“,
- Freeze,
- Verweigerung.
In vielen Fällen ist das jedoch keine Emotion sondern körperliche Unmöglichkeit, die Aufgabe auszuführen.
4. Schmerz zeigt sich im Parcours anders, weil das Pferd die Selbstregulation verliert
Der Unterschied zwischen Abreiten und Parcours ist entscheidend.
Beim Abreiten:
- niedrigeres Tempo,
- einfache Linien,
- mehr Zeit für Balance,
- Pferd wählt Distanzen selbst.
Im Parcours:
- keine Wahl der Absprünge,
- schnellere Reaktionen erforderlich,
- mehr Hilfen und Reize,
- weniger Zeit zur Organisation,
- enge Wendungen, Kombinationen, kurze Anritte.
Schmerzen, die einen Sprung erlauben, können eine ganze Folge von Sprüngen unmöglich machen.
Daher springen manche Pferde:
✔ Sprung 1
✔ Sprung 2
❌ stoppen beim dritten oder mitten im Parcours
weil der Körper überlastet ist.
Fazit: Der Parcours zeigt Schmerzen, die anderswo unsichtbar bleiben
Wenn ein Pferd:
- im Abreiten gut springt,
- aber nur im Parcours stoppt oder den Impuls verliert,
bedeutet das NICHT automatisch Unwillen oder Angst. Es kann bedeuten:
- Schmerz wird erst unter höherer Belastung sichtbar,
- der Parcours wirkt wie ein Belastungstest,
- der Körper überlastet sich im komplexen Aufgabenmodus.
Deshalb gilt:
- Zuerst Schmerzen ausschließen.
- Dann Stress und Überforderung analysieren.
Diese Vorgehensweise ist Standard in der modernen Pferdesportmedizin
und der Schlüssel zum Verständnis von Leistungsproblemen im Springsport