Im Springsport gibt es ein Phänomen, das für viele Reiterinnen und Reiter zu den frustrierendsten Erfahrungen gehört. Ein Pferd, das im Training stabil, willig und engagiert ist und auf dem Abreiteplatz schönen Rhythmus und gute Mechanik zeigt, scheint beim Betreten des Parcours seine Persönlichkeit zu verändern. Es verliert den Impuls, beginnt auf der Stelle zu hüpfen, macht den Körper zu, trifft keine Entscheidungen mehr und zeigt manchmal ein „Kästchenspringen“: ein guter Sprung, ein schwächerer, dann wieder ein guter, durchsetzt mit Stopps vor dem Sprung oder Ausweichen. Von außen sieht das nach Unwillen, Faulheit oder klassischer Sprungangst aus. In Wirklichkeit liegen die Ursachen dieses Phänomens jedoch tiefer, im Nervensystem des Pferdes, seinen kognitiven Fähigkeiten, motorischen Kompetenzen und darin, wie der Reiter auf die ersten Anzeichen eines Impulsverlusts reagiert.
Die moderne Forschung zu Pferdeverhalten und Neurophysiologie weist auf zwei Hauptmechanismen hin, die zu Problemen beim Anreiten und zu Verweigerungen im Parcours führen:
- Emotionaler Stress (fight/flight), verbunden mit Erregung und erhöhter Reaktivität.
- Kognitive und motorische Überlastung, also ein Entscheidungs-Freeze, der auftritt, wenn zu viele Informationen, widersprüchliche Hilfen oder eine Aufgabe die aktuellen Möglichkeiten des Nervensystems übersteigen.
Das Verständnis des Unterschieds zwischen beiden ist entscheidend, denn jeder Mechanismus erfordert völlig unterschiedliche Maßnahmen. Darüber hinaus führt eine falsche Interpretation, z. B. den Freeze als „Ungehorsam“ oder als Mutproblem zu deuten, häufig zu einer Verschärfung des Problems.
Stress, wenn das Pferd gehen möchte, aber „überreagiert“
Stress beim Springpferd ist relativ leicht zu erkennen. Das autonome fight/flight-Muster verursacht:
- einen hohen Hals,
- verkürzte und verspannte Oberlinie,
- erhöhte Aufmerksamkeit und Reaktivität,
- schnelleres Tempo und kürzere Galoppsprünge,
- chaotische Reaktionen in den Anreiten.
Im Parcours zeigt sich Stress oft als übermäßiges Tempo, hastiges Anreiten, Versuche, das Hindernis zu umgehen oder ein abruptes Ausweichen zur Seite. Ein Stopp ist, wenn er auftritt, meist ein Übergangsmoment in einer Abfolge, die zur Fluchtbewegung führt.
Viele Pferde werden erst im Parcours gestresst, obwohl das Abreiten ruhig verläuft. Die Turnieratmosphäre, Aufgabenlast, Publikumsenergie und der innere Druck des Reiters erhöhen die Erregung des Nervensystems. Studien (u. a. Rørvang 2021) zeigen, dass unter Stress die Fähigkeit zur Koordination und Verarbeitung komplexer Informationen abnimmt, was erklärt, warum Pferde „ohne Druck“ gut springen, aber in Wettbewerbsbedingungen Schwierigkeiten haben.
Freeze, wenn das Pferd nicht flieht, sondern „abschaltet“
Weit häufiger als Stress ist die Ursache für plötzliche Stopps im Parcours eine Reaktion, die als Überlastungs-Freeze (cognitive overload freeze) bezeichnet wird. Dies ist eine Form der motorischen und Entscheidungs-Blockade, die nicht durch Angst entsteht, sondern durch:
- Informationsüberflutung,
- widersprüchliche Hilfen des Reiters,
- unklare Bewegungsrichtung,
- Aufgabenkomplexität,
- zu schnelles Tempo der Veränderungen,
- Motivationskonflikt (gleichzeitige „Geh“- und „Stopp“-Signale).
Das Pferd zeigt dann typische Merkmale:
- der Körper „zieht sich zusammen“ und wölbt sich,
- die Hinterhand arbeitet nicht mehr,
- der Hals verkürzt und versteift sich,
- Vorwärtsbewegung stoppt oder wird durch vertikale Hüpfer ersetzt.
Dieser Freeze ist keine Form ursprünglicher Angst, auch wenn er mit geringer emotionaler Spannung einhergehen kann. Es handelt sich in erster Linie um eine Blockade eines Bewegungsmusters, verursacht durch Überforderung. Das Nervensystem des Pferdes ist nicht mehr in der Lage, gleichzeitig Raum, Rhythmus, Gleichgewicht und Reiterhilfen zu analysieren.
Das wichtigste Unterscheidungsmerkmal:
- explodiert das Pferd nach dem Stopp → Stress,
- bleibt es stehen, hüpft auf der Stelle, dreht langsam und friert wieder ein → Überlastungs-Freeze.
Ein Freeze kann auch durch Schmerz ausgelöst werden (nachgewiesen in Studien von Dyson, Murray, Greve). Daher sollte jede Verhaltensanalyse auch eine orthopädische Untersuchung, Sattelanalyse und Atemwegsabklärung umfassen. Dass ein Pferd auf dem Abreiteplatz gut springt, aber erst im Parcours stoppt oder „abschaltet“, schließt Schmerzen keineswegs aus. Im Gegenteil, es ist oft ein typischer diagnostischer Hinweis bei Sportpferden.
Was sagt die Forschung?
- Rørvang et al. 2021 kognitiv überforderte Pferde zeigen mehr Frustration und Schwierigkeiten bei motorischen Aufgaben.
- McBride 2017 („Applied neurophysiology of the horse“) **– Überlastung des Nervensystems führt zu Bewegungsblockaden und eingeschränktem Zugriff auf bekannte Bewegungsmuster.
- McGreevy, McLean Hilfenskonflikte und gleichzeitige treibende und hemmende Signale führen zu Entscheidungsverlust und erlerntem Freeze.
- Müller-Klein 2024 der emotionale Zustand des Reiters beeinflusst direkt die Erregung des Pferdes.
Warum verwechselt das Internet Freeze mit Angst?
In populären Reitsportartikeln wird Freeze meist als Teil der klassischen Stress-Triade dargestellt: fight – flight – freeze.
Biologisch stimmt das, aber es ist zu vereinfacht, um das Verhalten von Sportpferden unter komplexen Aufgaben, wie im Parcours, zu erklären. In der Neuroethologie der Säugetiere, einschließlich der Pferde, umfasst „Freeze“ eine ganze Familie immobilisierender Verhaltensweisen mit unterschiedlichen Ursachen und Folgen, darunter:
- fear-freeze (bei lebensbedrohlichen Reizen),
- orienting freeze (Einfrieren zur Reizbewertung),
- conflict freeze (bei widersprüchlichen Signalen),
- cognitive overload freeze (Aufgabenüberforderung),
- frustration freeze (bei Unmöglichkeit der Bewegungsausführung).
In der Reitpraxis konzentriert man sich fast ausschließlich auf Fear-Freeze, weil es einfach zu erklären ist. Kein Wunder, dass das Internet es als einzig gültige Form behandelt.
Das Problem: Freeze, wie er bei Springpferden im Parcours zu sehen ist, ist fast nie ursprüngliche Angst. Viel häufiger handelt es sich um:
- Informationsüberlastung,
- motorische Überforderung,
- Hilfenskonflikte (interne vs. externe Hilfen),
- Gleichgewichtsverlust,
- mangelnde Entscheidungsfähigkeit,
- übermäßige Spannung durch Druck.
Neurobiologisch können diese Verhaltensweisen ähnlich aussehen (Stillstand, Steifheit), haben aber völlig andere Ursachen und erfordern unterschiedliche Maßnahmen.
Was führt Beobachter in die Irre?
- Beide Reaktionen sehen äußerlich ähnlich aus: das Pferd bewegt sich nicht.
- Der Internetleitsatz „stehend = ängstlich“ ist im Sport überholt.
- Fear-Freeze ist leicht zu erklären, Overload-Freeze erfordert Neurophysiologie und Lerntheorie.
- Reiter deuten Stopps oft als „Unlust“ statt Entscheidungsverlust.
- Reitausbildung betont häufig Dominanz, Gehorsam und „Durchsetzen“, statt Verhaltensmechanismen zu verstehen.
Was sagt die Wissenschaft?
Studien (McBride 2017, McDonnell 2020, Rørvang 2021) zeigen:
- Fear-freeze tritt bei lebensbedrohlichen Situationen auf,
- Overload-freeze tritt auf, wenn Aufgaben kognitive oder motorische Kapazitäten übersteigen,
- es handelt sich um zwei unterschiedliche Reaktionen mit verschiedenen neuronalen Netzwerken,
- bei Sportpferden überwiegt die aufgabenbezogene Form des Freeze.
Warum ist das so wichtig?
Weil falsche Diagnose zu falschem Handeln führt:
- bei Angst → Erregung senken, Sicherheit schaffen, Abstand zum Reiz,
- bei Überlastung → Hilfen reduzieren, Aufgabe vereinfachen, Entscheidungsfähigkeit wiederherstellen.
Wer beides verwechselt, kann:
- Druck erhöhen,
- Blockaden verstärken,
- erlernten Freeze erzeugen,
- das Vertrauen des Pferdes in den Parcours zerstören.
Das Internet verwechselt Freeze mit Angst, weil beide Verhaltensweisen ähnlich aussehen, aber unterschiedliche neurobiologische Ursachen haben. Bei Sportpferden dominieren Freeze-Formen, die nicht mit Angst verbunden sind, sondern mit Überlastung, Hilfenskonflikten oder Entscheidungsverlust. Deshalb ist es im Springsport entscheidend zu wissen, welchen Freeze man sieht – denn davon hängt die richtige Vorgehensweise ab.
Warum löst der Parcours so leicht Freeze aus?
Ein Parcours erfordert:
- sofortige Entscheidungen,
- Gleichgewichtskontrolle,
- ständige Tempo- und Richtungsanpassung,
- Reaktion auf Reiterhilfen unter Zeitdruck.
Dies ist deutlich komplexer als Einzelsprünge beim Abreiten. Wenn ein Pferd:
- kognitiv sensibel ist,
- durch Reiteremotionen überlastet wird,
- körperlich unsicher ist (fehlende Balance, Rückenspannung),
- widersprüchlichen Signalen ausgesetzt ist,
kann sein Nervensystem in einen Blockadezustand geraten.
Daher das Phänomen des „Kästchenspringens“: Nach einem Freeze liefern Pferde oft ein oder zwei gute Sprünge, aber ihr Bewegungssystem ist noch nicht vollständig synchronisiert.
Die Rolle des Reiters: wenn die menschliche Reaktion entscheidet, ob Freeze verschwindet oder chronisch wird
Der häufigste Fehler: Druck erhöhen, wenn das Pferd beginnt zu blockieren.
Im Freeze verweigert das Pferd die Aufgabe nicht. Es verliert die Fähigkeit, Bewegungsentscheidungen zu treffen. Stärkere Schenkel, Zügel oder Sitz:
- erhöhen die Anzahl zu verarbeitender Reize,
- verstärken die Überlastung,
- verschließen die Oberlinie weiter,
- verankern Freeze als Bewältigungsstrategie.
Biomechanisch gleicht dies gleichzeitigem Gas- und Bremspedal: Energie steigt, findet aber keinen Ausgang.
Freeze kann ein erlerntes Muster werden, wenn das Pferd wiederholt Druck in Überlastungsmomenten erfährt. Dann reagiert es nicht auf das Hindernis, sondern auf die Spannungsänderung des Reiters.
Hochsensible Pferde verarbeiten Mikrosignale:
- Zügelspannung,
- Atemmuster,
- Energieveränderung beim Betreten des Parcours.
Für solch ein Pferd bedeutet „etwas ist anders“ oft:
Aufgabe wird schwierig → ich blockiere.
Kann man Freeze verhindern oder umkehren?
Ja. Freeze ist keine Charaktereigenschaft des Pferdes, sondern eine Strategie des Nervensystems. Sie kann verändert werden durch:
- Druckreduzierung und Minimierung der Hilfen,
- Wiederaufbau von Entscheidungsfähigkeit,
- klare, lineare Kommunikation,
- Arbeit an Balance und Bewegungskompetenz,
- Ausschluss von Schmerz,
- Training flüssiger Übergänge und Reaktionen auf minimale Hilfen.
Freeze ist komplett modifizierbar, wenn der Reiter seine Ursachen versteht.
Zusammenfassung
Ein Pferd, das überall gut springt außer im Parcours, hat nicht zwingend ein Mut-, Technik- oder Willigkeitsproblem. Meist reagiert sein Nervensystem auf geänderte Aufgabenbedingungen mit Überlastung oder Hilfenskonflikt.
Stress und Freeze sind zwei unterschiedliche Mechanismen:
- Stress erfordert Senkung der Erregung und mehr Vorhersehbarkeit,
- Überlastungs-Freeze erfordert Struktur, minimale Hilfen und Wiederherstellung der Entscheidungsfähigkeit.
Die wichtigste Wahrheit:
Freeze kann spontan auftreten, aber ebenso leicht durch Reiterdruck erlernt werden und auf genau dieselbe Weise wieder verlernt werden. Es ist nicht der Charakter des Pferdes, sondern das Nervensystem, das auf Aufgabe, Umgebung und menschliche Kommunikation reagiert.